Infantilisierung der Teilnehmenden beim Bachmann-Preis?

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Schon beim ersten Lesen ist mir der Artikel des Kulturredaktors des St. Galler Tagblattes, Hansruedi Kugler, in der Solothurner Zeitung vom 17. Juni 2021 sehr negativ aufgefallen, in dem er Dieter Bohlen aus DSDS mit Marcel Reich-Ranicki beim Bachmann-Preis vergleicht. Nun, kritische Töne gegen die Jury beim Bachmann-Preis in Klagenfurt hat es auch in diesem Jahr gegeben, aber was in diesem Artikel steht, übersteigt dies bei Weitem.

Der lange Nachhall von Demütigungen vereint DSDS mit dem Bachmannpreis, dem man immer noch Marcel Reich-Ranickis Vernichtungsurteil «Dieser Text ist keine Literatur, sondern ein Verbrechen» aus dem Jahr 1977 vorhält.

Aber bitte, da werden zwei Zeitebenen verglichen, die zwei Generationen auseinander liegen. 1977 war der Start des Bachmannpreises zu Ehren der 1975 verstorbenen Dichterin Ingeborg Bachmann. Die Zeiten von Reich-Ranicki sind aber längst vorbei, er ist bereits 2013 gestorben – und 1986 war er zum letzten Mal in der Jury.  Abgesehen davon, dass ein Vergleich von Dieter Bohlen mit Reich-Ranicki doch sehr verwegen ist. Wenn dann weiter geschrieben wird:

Bohlen und Reich-Ranicki teilen ohnehin ein Schicksal: Beide sollen überwunden werden.

Dann ist auch dies sehr weit hergeholt. Die Zeiten von Reich-Ranicki sind schon längst überwunden, die Zeiten von Bohlen werden eben erst überwunden, so sicher ist man sich da aber wohl auch nicht.

Schliesslich aber liest man in diesem Artikel:

Verblüffend ist, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf diese Infantilisierung einlassen: Das Ganze ist ja – egal, ob bei Pop oder Literatur – wie eine Aufnahmeprüfung oder ein Vorstellungsgespräch inszeniert.

Das Vorlesen beim Bachmann-Preis als Infantilisierung der Teilnehmenden zu bezeichnen, ist doch allerhand. Immerhin hat letztes Jahr Helga Schubert, eine gestandene Autorin, den Bachmann-Preis gewonnen, die als Autorin bereits bekannt war und 1980 als Teilnehmerin nicht anreisen durfte, weil sie von der damaligen DDR keine Ausreiseerlaubnis bekommen hat.

Und wenn  man die diesjährige Gewinnerin des Hauptpreises, Nava Ebrahimi, als weiteres Beispiel nimmt, so ist diese Unterstellung von Kugler zynisch.

Hier noch einige weitere Bemerkungen zum Bachmann-Preis aus dem Kugler-Text:

Der Lesemarathon beim Bachmannpreis in Klagenfurt ist komplettes Antifernsehen. Wen wundert’s?

Introvertierte Wasserglaslesungen im ORF-Studio, das wie ein White Cube im Kunstmuseum wirkt, mit kopfnickendem, kultiviertem Publikumsklatschen, Wangenküsschen mit Diplomübergabe.

… der Bachmannpreis tischt bierernsten Weltschmerz mit Lachverbot auf.

… beim Bachmannpreis hingegen geht es um ästhetische Tiefenbohrungen in unsere Gegenwart und scharfsinnige Kunstanalysen.

Online-Quellen (interessanterweise ist der Artikel nicht über die Seite der Solothurner-Zeitung erhältlich)