Ohne Namen keine Stadt?

Kürzlich habe ich mit einer Klasse Stellen aus Uwe Timms “Johannisnacht” besprochen. Der Ich-Erzähler geht in Berlin – die Geschichte spielt 1995 – in ein Lebensmittelgeschäft und verlangt ein Brötchen mit Käse, und zwar mit Tilsiter. Eine alte Frau bedient ihn.

Füher, sagte die alte Frau, bekamen wir Butter und Käse direkt aus Tilsit, das war vor dem Krieg. Der Käse heisst noch so, aber die Stadt gibt es nicht mehr.
Doch, sagte ich, nur der Namen ist ein anderer.
Nein, sagte die alte Frau, wenn der Name verloren ist, gibt es auch nicht mehr die Stadt.

Gibt es eine Sache – oder eine Stadt noch, wenn sie den ursprünglichen Namen verloren hat? Unwillkürlich fühlt man sich an das Universalienproblem im Mittelalter erinnert. Aus Tilsit ist Sowetsk geworden und die Stadt befindet sich nun in Russland; objektiv gesehen, gibt es diese Stadt natürlich noch, nur für die alte Frau nicht mehr. Für sie hat die preussische Stadt aufgehört zu existieren, wie auch das Tausendjährige Reich aufgehört hat zu existieren.

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Damit wird klar, was nicht mehr existiert. In diesem Sinne hängt diese Form der Existenz tatsächlich ab von ihrem Namen.

Eine Antwort auf „Ohne Namen keine Stadt?“

  1. Das ist sehr tiefgründig geschrieben und erinnert mich an die unendliche Geschichte. Allerdings geht es da darum, dass eine Figur verschwindet, wenn sie nicht regelmässig einen neuen Namen bekommt. Man sieht also, die eigene Existenz hängt schon vom Namen ab. Aber ich denke, es hängt auch davon ab, wie man sich selbst sieht. Die Stadt im Buch existiert zwar noch, aber sie hat sich verändert und der alte Name würde nicht mehr zu ihr passen. Dementsprechend könnte man auch sagen, dass die Stadt gleichzeitig existiert aber auch nicht mehr existiert.

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